Allenthalben wird der Untergang befürchtet oder herbeigesehnt – jener der Industriegesellschaft, des Klimas, der Tradition, des Zusammenhalts, der Identitäten oder Geschlechtervorstellungen. Die interdisziplinäre Konferenz «Gegen/Moderne. Kulturkämpfe um die Gegenwart» an der Universität Basel setzt bei der Beobachtung an, dass Gesellschaften der Gegenwart weniger gespalten als ubiquitär angefochten sind. Vormoderne Bilder und Figuren finden sich neben hypermodernen Zukunftsfiktionen, Bruchstücke linker und rechter Narrative werden vermischt. Die Referenzgrößen der Kulturkämpfe sind zumeist nicht unbedingt Vernunft oder Unvernunft, Fortschritt oder Rückschritt, sondern zumeist das große Ganze: die Moderne.
Tatsächlich befinden sich die modernen Gesellschaften der Gegenwart in einer Phase des beschleunigten ökonomischen, sozialen, technologischen und normativen Wandels. Die formale Herrschaft wurde in modernen Gesellschaften beständig abgebaut. Parallel verläuft die Expansion subjektiver Rechte als ein totalisierender Prozess. Individualisierungen entfalten sich in einer Matrix umfangreicher Fixierung subjektiver Rechte, die in alle Kapillaren der Gesellschaft eingedrungen ist. Diese emanzipatorische Transzendenz produziert aber gleichzeitig Grundsatzkonflikte: Die Idee der Freiheit wird gegen Differenz und Umverteilung angeführt, die der Gleichheit reduziert sich auf jene des Konsumpartizipation und der Marktteilnahme, und die Idee der Solidarität wird als exklusive zur Legitimation diverser Ausschlüsse eingesetzt. So wendet der Widerstand gegen die Moderne ihre Ideale in kulturalisierter Form gegen ihr progressives Potential.
Die Moderne war nie ein linear verlaufender evolutorischer Prozess, sondern immer von einer "Dialektik der Aufklärung" (Horkheimer/Adorno) geprägt.
Die Moderne war nie ein linear verlaufender evolutorischer Prozess, sondern immer von einer «Dialektik der Aufklärung» (Horkheimer/Adorno) geprägt. Fortschrittlicher sozialer Wandel produziert beständig sein Gegenteil: Die Moderne hat neue Freiheitsgrade geschaffen, aber statt universeller Emanzipation auch neue Formen der Herrschaft erzeugt. Die Aufklärung findet selektiv statt, die Vernunft äußert sich instrumentell, die Wissenschaft schlägt bisweilen ins Mythologische um. Mitunter neigt die Verteidigung der kapitalistischen Moderne selbst zum Fundamentalismus: Kritik wird mit antimodernem Traditionalismus gleichgesetzt, Nonkonformismus in das stählerne Gehäuse von Verwertung und Zurichtung hineingezogen.
So hat der Fundamentalismus der Moderne sein modernes Gegenstück produziert. Die Moderne erscheint zuweilen nicht als ein «unvollendetes Projekt» (Jürgen Habermas), das Aufklärung, Rationalisierung und kulturelle Differenzierung im Dienste von Freiheit, Gleichheit und Solidarität voranbringt, sondern wird vermehrt als unerwünschtes Projekt dargestellt. Die Dynamik der Moderne wurde immer wieder als inhärent krisenhaft beschrieben. Die Anlässe der Kritik mögen variieren, in ihrem Kern visieren sie aber eine Vielzahl von Folgen von Modernisierungsprozessen an und nehmen diese zum Ausgangspunkt, um Gegenmodernisierungen zu initiieren, die durch Erlösungshoffnungen, einem Begehren des Eigentlichen und dem ganz vulgären Verteidigen von Privilegien vorangetrieben wurden. Auch wenn sich der Widerstand gegen die Moderne gegen sie richtet, ist er doch auch ihr Produkt. Diejenigen, die eine Gegenmoderne ausrufen, agieren auf dem Boden des von ihnen Bekämpften. Die antimoderne Revolte ist keine Übergangserscheinung, sie gehört der Moderne an und ist in ihr angelegt (Klinger 2003).
Ein zentraler Ausgangspunkt dieser Diskussion ist die Essaysammlung Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno (1947), die beschreibt, wie die Moderne aus ihrem eigenen Fortschritt heraus neue Herrschaftsstrukturen generiert. Die Vernunft, die ursprünglich als Mittel zur Befreiung gedacht war, schlägt in instrumentelle Rationalität um und produziert neue Formen der Kontrolle. Diese These lässt sich in aktuellen Debatten um Individualisierung unddie Expansion subjektiver Rechte wiederfinden. Während die Moderne einerseits eine Ausweitung individueller Freiheiten ermöglicht hat, führt sie gleichzeitig zu gesellschaftlichen Konflikten, weil neue Differenzen entstehen und alte kollektive Identitäten aufgelöst werden (Honneth 1992; Fraser 2009). Fraser hebt hervor, dass der Kampf um Anerkennung oft in neue Ausschlüsse mündet, während Honneth die Spannung zwischen individueller Freiheit und sozialer Solidarität thematisiert. Auch Peter Wagner (2016) betont in Fortschritt, dass der Begriff des Fortschritts nicht mehr als eine lineare, unumstrittene Entwicklung verstanden werden kann, sondern in vielfältige, oft widersprüchliche Prozesse zerfällt.
Die Widersprüche der Moderne äußern sich auch in aktuellen Debatten um politische Korrektheit und kulturelle Sensibilitäten. Adrian Daub (2023) zeigt in Cancel Culture Transfer, wie moralische Paniken um politische Korrektheit zunehmend globalisiert werden und sich in Form einer universellen Bedrohungserzählung manifestieren. Diese Erzählung ist ein zentrales Moment gegenmoderner Diskurse, da sie eine vermeintliche Einschränkung von Meinungsfreiheit und Identitätsrechten als Symptom eines übergriffigen Fortschritts interpretiert. Ähnlich analysieren Steffen Mau et al. (2023) in Triggerpunkte, wie bestimmte kulturelle Phänomene – von Gendersternchen bis zu Klimapolitik – gesellschaftliche Spaltungslinien sichtbar machen und als Symbolkonflikte fungieren.
Die aktuelle Phase der "Gegen/Moderne" ist somit nicht einfach eine Rückkehr zur Vormoderne, sondern Ausdruck einer tiefen Krise der Moderne selbst.
In diesem Kontext entstehen Gegenbewegungen, die sich gegen die Moderne wenden, jedoch selbst durch sie geprägt sind. Klinger (2003) argumentiert, dass antimoderne Revolten nicht außerhalb der Moderne stehen, sondern auf den Widersprüchen moderner Gesellschaften aufbauen. So vereinen gegenwärtige antimoderne Strömungen sowohl rechte als auch linke Narrative, traditionelle Werte und hypermoderne Zukunftsfiktionen (Griffin 2007). Diese Vermischung zeigt sich besonders in den aktuellen Kulturkämpfen, die nicht mehr entlang klassischer politischer Linien verlaufen, sondern fragmentierte, oft widersprüchliche Allianzen hervorbringen (Reckwitz 2019). Reckwitz (2023) hebt in Verlust hervor, dass der gegenwärtige gesellschaftliche Wandel mit einem tiefen Gefühl des Verlustes verbunden ist – sei es der Verlust von Sicherheit, Traditionen oder einer als stabil empfundenen Ordnung.
Chantal Mouffe (2018) zeigt, dass viele gegenwärtige Kulturkämpfe in einer tiefen Krise des Liberalismus wurzeln. Sie argumentiert, dass die Ablehnung der Moderne in weiten Teilen des politischen Spektrums Ausdruck einer Krise demokratischer Repräsentation ist, in der sowohl linke als auch rechte Bewegungen alternative Ordnungsvorstellungen entwickeln. Während progressive Bewegungen versuchen, die Moderne durch erweiterte Partizipationsformen zu demokratisieren, schlägt die antimoderne Revolte oft in autoritäre und exkludierende Ideologien um. Ein weiteres Spannungsfeld ist die Auseinandersetzung innerhalb des Liberalismus selbst. Samuel Moyn (2023) zeigt in Der Liberalismusgegen sich selbst, dass viele Konflikte, die heute als Kampf zwischen Modernisierung und Gegenmodernisierung erscheinen, tatsächlich innerliberale Auseinandersetzungen sind, die bis in den Kalten Krieg zurückreichen. Moyn argumentiert, dass der Liberalismus in seiner gegenwärtigen Form zunehmend die Grundlagen seiner eigenen Werte untergräbt, insbesondere wenn er emanzipatorische Diskurse mit marktförmiger Logik verknüpft.
Ein zentrales Element dieser Gegenbewegungen ist das Begehren nach Ursprünglichkeit, Authentizität und einer nostalgischen Vergangenheit. Bauman (2017) spricht in diesem Zusammenhang von Retrotopie – einer Idealisierung der Vergangenheit als Gegenbild zur fluiden, unbeständigen Moderne. Solche Sehnsüchte äußern sich in populistischen Bewegungen, die einfache Lösungen für komplexe gesellschaftliche Probleme versprechen (Lilla 2017). Griffin (2021) analysiert rechte Bewegungen als „palingenetische Ultranationalismen“, die eine mythische Wiedergeburt einer vermeintlich besseren Vergangenheit beschwören. Dabei werden antimoderne Narrative mit modernen Technologien und Kommunikationsformen kombiniert, was zu einer paradoxen Situation führt: Die Gegenmoderne bedient sich der Errungenschaften der Moderne, um sich gegen sie zu wenden (Žižek 2017). Bruno Latour (2004) hebt hervor, dass viele gegenwärtige Krisendiskurse eine Rückkehr zu vormodernen Vorstellungen bewirken – etwa durch die Leugnung des Klimawandels oder die Ablehnung wissenschaftlicher Rationalität zugunsten alternativer Wahrheitsregime. Die aktuelle Phase der «Gegen/Moderne» ist somit nicht einfach eine Rückkehr zur Vormoderne, sondern Ausdruck einer tiefen Krise der Moderne selbst.
Für Fragen oder weitere Informationen sind wir gerne für Sie per E-Mail erreichbar (gegenmoderne@unibas.ch).